Jele Mailänder

Alles neu!

Zauberformel, Weltflucht oder Apokalypse

15.12.2025 | Geistlich leben | 0 Kommentare

Es ist ein später Sommerabend, warm genug, dass wir noch draußen sitzen können. Auf dem Tisch zwischen uns stehen zwei Gläser. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ich meine Freundin Viktoria zuletzt gesehen hatte. Inzwischen lebt sie wieder in Kiew. Zwei Jahre hatte sie mit ihrem Sohn in Deutschland verbracht, um ihn aus den direkten Bedrohungen des Krieges herauszunehmen. Aber irgendwann drängte es sie zurück: zu ihrem Mann, zu ihrer Großfamilie, zu dem Land, das trotz allem ihr Zuhause ist.

Ich ringe mit der Frage, die sich aufdrängt. Schließlich formuliere ich sie, auch wenn sie mir schwer über die Lippen kommt: „Wie hältst du das aus, Tag für Tag – die Drohnenangriffe, die Todesmeldungen, das Leid auf der Straße?“

Sie schaut mich an, als habe sie diese Frage schon oft gehört. „Man gewöhnt sich nie daran“, sagt sie leise. „Aber wir dürfen nicht aufhören, an eine Zukunft zu glauben. Sonst verlieren wir uns selbst.“

Aber wir dürfen nicht aufhören, an eine Zukunft zu glauben. Sonst verlieren wir uns selbst.

Patmos – Insel des Schreckens
Szenewechsel: Wir befinden uns in Patmos – eine Insel, die karg und steinig ist und trotzdem als DER Touristenmagnet in der griechischen Ägäis gilt. Dabei hätte in der Antike kaum jemand freiwillig diese griechische Insel betreten. Sie galt sie als unbarmherziger Ort für jene, die man loswerden wollte: Verbrecher, politische Gegner, unbequeme Stimmen. Hierher wurden Menschen verbannt, die von der Gesellschaft vergessen und dem sicheren Tod überlassen werden sollten. Heute Touristenmagnet – damals Insel der Verbannung.

Ein Ort der Einsamkeit und der Trostlosigkeit. Und doch – gerade in dieser Öde geschieht etwas, das bis heute die Welt bewegt: Johannes schreibt die Texte der Offenbarung, das wir heute als das letzte Buch der Bibel kennen. Auf der „Insel der Verbannten“ entsteht dieser Text, der bis heute sowohl fasziniert als auch erschreckt. Dieser Text wird auch als Apokalypse beschrieben wird. Apokalypse – in meinem Kopf tauchen Bilder von Katastrophen, Weltuntergang und Endzeit-Szenarien auf – Bilder von Zerstörung, Chaos und dem Zusammenbruch der bekannten Ordnung.

Ein Ort der Einsamkeit und der Trostlosigkeit.

Kriege, Hungersnöte, Machtmissbrauch, Tod.

Johannes beschreibt das Grauen seiner Zeit in drastischen Bildern: Kriege, Hungersnöte, Machtmissbrauch, Tod. Die berühmten vier Reiter der Apokalypse sind wie eine Bildsprache, die auch in unsere Gegenwart passt. Wer die Nachrichten verfolgt, erkennt die Parallelen: Krieg in Europa, Hungersnöte in Afrika, die eskalierende Klimakrise, der Verlust an Artenvielfalt, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Apokalypse heute heißt für mich manchmal: App löschen!

Von diesen Bildern haben wir eigentlich mehr als genug, möchte man meinen. Texte in den sozialen Medien, erschreckende Nachrichten und politische Weltuntergangsszenarien scheinen nicht weit entfernt zu sein von der Apokalypse und der allgegenwärtigen Weltuntergangsstimmung. Die Welt wird immer wärmer, die Klimakatastrophe lässt sich kaum noch aufhalten. Gletscher schmelzen, die Biodiversität schrumpft in beängstigendem Tempo. Auch ich frage mich: In welcher Welt werden meine Kinder einmal groß?
Außerdem jagt eine Krise die nächste. In den Nachrichten sehe ich Hungersnöte und verzweifle beinahe, wenn ich erlebe, dass diese verdammten Kriege nicht beendet werden können – egal durch welche politischen Deals.
In mir wächst das Gefühl der Ohnmacht. Es gibt Wochen, in denen ich meine Nachrichten-App oder bestimmte Social-Media-Anwendungen von meinem Handy lösche, nur um mich nicht ständig mit diesen apokalyptischen Tatsachen und Weltuntergangsszenarien auseinandersetzen zu müssen. Zu Recht kann man da fragen: Ist das Weltflucht? Oder ein Akt der Selbstfürsorge?
Wenn ich schon die aktuellen Nachrichten kaum ertrage, frage ich mich unweigerlich: Brauchen wir da auch noch die apokalyptischen Bilder der Bibel? Ich ertappe mich jedenfalls immer wieder dabei, dass ich einen großen Bogen um das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, mache. Zu ungewöhnlich sind die Bilder, zu düster die Stimmung, die der Autor zeichnet.
Johannes, der Verfasser der sogenannten Johannes-Apokalypse, schont uns keineswegs: Mit realistischen, düsteren Gewaltdarstellungen malt er in schwarzen Farben die Realitäten seiner Zeit. Er beschreibt die Schrecken der letzten Tage als das Werk unerbittlicher Gegenspieler Gottes. Bei Johannes treten die vier apokalyptischen Reiter als Boten der nahenden Apokalypse, des Jüngsten Gerichts, auf: Machtmissbrauch, Krieg, Hungersnot und Tod (Offb 6,9–11). Beim Lesen der Johannes-Offenbarung möchte ich manchmal am liebsten auf „App löschen“ drücken – so niederschmetternd finde ich diese Bilder.

Was hinter den Kulissen passiert

Doch bevor ich auf „Löschen“ drücke, noch einmal näher hingeschaut: Die Offenbarung ist kein Science-Fiction-Thriller und kein endzeitliches Drehbuch. Johannes malt die Schrecken nicht, um Panik zu verbreiten, sondern um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das griechische Wort apokálypsis bedeutet schlicht: Enthüllung, Offenbarung. Nicht die Zerstörung der Welt, sondern das Aufdecken einer verborgenen Wirklichkeit.
Apokalypse ist also Enthüllung. Sie zeigt, was hinter den Kulissen geschieht. Die Machtspiele der Herrschenden, die Gewalt der Kriege – sie sind nicht das letzte Wort. Johannes entlarvt sie, indem er sie in Bilder fasst. Er reißt den Schleier weg und sagt: Das ist die Realität. Aber es gibt eine andere Wirklichkeit, die tiefer reicht.
Diese andere Wirklichkeit wird in den letzten Kapiteln sichtbar. Dort, wo nach allen Schreckensbildern plötzlich ein völlig neuer Ton anschlägt:

„Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5)

Hoffnung ohne Illusionen

Dieser Satz ist zur Jahreslosung für 2026 geworden. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, aus welchem düsterem Text er stammt. Die Jahreslosung »Ich mache alles neu.« (Offenbarung 21,5) wirkt hier fast schon wie eine Zauberformel. „Stimmt schon: die Welt ist böse – aber hey: Es wird schon gut werden…“ Klingt fast ein bisschen banal. Wäre nicht zuvor in so realistischen, sinnlichen Bildern eben auch das Gegenteil vollumfänglich ausgeführt worden. Von wegen zauberformel! Die Offenbarung spart das Dunkle nicht aus. Doch zwischen den realitätsnahen und heute so aktuellen Schreckensnachrichten tritt die Verheißung hervor: Gott schafft Neues! Kein Flickwerk, keine Reparatur des Alten, sondern radikal Neues.
Das ist keine naive Vertröstung. Johannes lebte in einer Zeit, in der Christen und Christinnen verfolgt wurden, in der das Römische Reich seine Macht brutal demonstrierte. Er wusste, was Gewalt bedeutet. Und gerade dort wagt er, von einer neuen Schöpfung zu sprechen: von einer Welt ohne Tränen, ohne Tod, ohne Klage.
Die Verse rund um die Jahreslosung lesen sich deshalb wie ein Donnergrollen, das den nahenden Sturm ankündigt und zugleich ahnen lässt, dass danach die Luft klar sein wird und die Vögel wieder zwitschern. Immer wieder lese ich diese Verse – fast trotzig, um gegen die Weltuntergangsstimmung unserer Tage anzuhalten:

Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:
»Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen!
Er wird bei ihnen wohnen,
und sie werden seine Völker sein.
Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein.
Er wird jede Träne abwischen von ihren Augen.
Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben,
kein Klagegeschrei und keinen Schmerz.
Denn was früher war, ist vergangen.«
Der auf dem Thron saß, sagte:
»Ich mache alles neu.«
Und er fügte hinzu: »Schreib alles auf,
denn diese Worte sind zuverlässig und wahr.«
Dann sagte er zu mir: »Es ist geschehen!
Ich bin das Alpha und das Omega,
der Anfang und das Ende.
Ich werde dem Durstigen Wasser geben,
das aus der Quelle des Lebens fließt.
Ich gebe es ihm umsonst.

Offenbarung 21,3–6

Sichtbarwerden einer verborgenen Wirklichkeit

Es geht in der Apokalypse des Johannes um das Sichtbarwerden einer verborgenen Wirklichkeit. Johannes legt uns einen Text vor, der aktueller kaum sein könnte: Er verschweigt die Schrecken der Zeit nicht, eröffnet aber mitten aus ihnen heraus Hoffnung und Zukunft. Er verweist auf die unsichtbare Wahrheit: Jemand hält diese Welt in seiner Hand – und er wird sich zeigen! Gleichzeitig weitet er den Blick auf einen größeren Horizont: Selbst dort, wo Menschen nur Ende und Ausweg sehen, kann und wird Gott Anfang und Verheißung schenken: Gott selbst macht alles neu!
Vielleicht liegt darin die eigentliche Kraft der Apokalypse: Sie nimmt das Dunkle ernst – und gerade deshalb kann sie von Hoffnung sprechen, die nicht billig ist.

Für mich persönlich heißt das: Ich darf mich schützen vor der Flut der Nachrichten. Manchmal heißt das also wirklich „App löschen“. Aber ich darf und will nicht stehen bleiben beim Wegschauen. Hoffnung bedeutet nicht, die Realität auszublenden. Hoffnung bedeutet, sie zu sehen – und trotziges an das Göttlich-Neue zu glauben.
Wenn ich also wieder auf „App löschen“ tippe, will ich mich erinnern: Es gibt eine andere Perspektive. Sie ist nicht sichtbar, aber sie ist verheißen. Sie trägt den nüchternen, klaren Satz: „Siehe, ich mache alles neu.“
Diese Hoffnung hat nichts mit Wunschdenken zu tun. Sie ist ein Widerspruch gegen die scheinbar alternativlosen Bilder der Katastrophe. Sie ist ein Protest gegen die Vorstellung, dass alles den Bach hinuntergeht.

Vom „App löschen“ zum sehenden Hoffen

Hoffnung und Verantwortung

Für Leserinnen und Leser, die mit Fragen der Nachhaltigkeit ringen, klingt das vielleicht vertraut. Wir wissen, dass die Klimakrise real ist. Wir sehen die Folgen des Artensterbens, das Schmelzen der Gletscher, die sozialen Ungerechtigkeiten. Und wir wissen: Es wird nicht reichen, einfach so weiterzumachen.
Die biblische Hoffnung, dass Gott „alles neu“ macht, entlässt uns nicht aus der Verantwortung. Im Gegenteil. Sie erinnert uns daran, dass die Schöpfung nicht uns gehört, sondern Gott. Sie ist uns anvertraut – und darum verpflichtet uns Hoffnung zu handeln.
Wer glaubt, dass Gott Neues schaffen wird, kann schon jetzt im Kleinen Schritte setzen, die dem Neuen entsprechen: nachhaltiger leben, achtsamer mit Ressourcen umgehen, Menschenrechte achten, Frieden fördern, wo es möglich ist. Nicht, weil wir die Welt retten könnten. Sondern weil wir auf den vertrauen, der sie in seinen Händen hält.
Ich schaue Viktoria in die Augen und die Frage: „Wie hältst du diese Schreckensbilder aus?“ hängt zwischen uns. Sie seufzt und nimmt einen Schluck aus ihrem Kaffee: „Eines Tages kommst du mich mit deiner Familie besuchen, Jele!“ Du wirst das Meer sehen und die Schönheit der Ukraine! Du wirst ein Land sehen, das in Frieden lebt und die Menschen kennen lernen, die dort leben. Es sind großartige Menschen. Wir sind ein starkes Land! Und es wird einen Neuanfang geben! Wir sehen ihn noch nicht! Ja, noch sieht alles schrecklich aus. Aber Gott wird uns einen Neuanfang schenken! ER wird alles neu machen! Das sehen wir noch nicht! Aber das glauben wir.“ Viktoria lebt mitten in einer Realität, die vom Schrecken gezeichnet ist. Und trotzdem spricht sie von Zukunft. Nicht, weil es leicht wäre. Sondern weil sie darauf vertraut, dass das letzte Wort nicht bei Drohnen und Bomben liegt.
Ich nicke, weil der Klos im Hals so sitzt, dass ich nicht sagen kann.. Ihre Hoffnung ist keine romantische Verklärung, sondern ein nüchterner Trotz gegen das Dunkle. Und genau darin liegt ihre Kraft.

Ein Gespräch, das bleibt

Was bleibt
Vielleicht ist das die Zumutung und zugleich die Einladung der Apokalypse: Sie verschweigt das Leid nicht. Aber sie bleibt auch nicht dabei stehen. Sie öffnet den Blick auf eine größere Wirklichkeit, die wir nicht selbst hervorbringen können.
Es gibt eine Dimension, die wir nicht sehen, aber glauben dürfen: dass Gott das letzte Wort haben wird. Und dieses Wort lautet nicht Zerstörung, sondern Erneuerung.
„Siehe, ich mache alles neu.“
Das ist keine Vertröstung. Es ist eine Perspektive, die uns nüchtern bleiben lässt – und dennoch hoffnungsvoll.

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