Jele Mailänder
Alles neu!
Zauberformel, Weltflucht oder Apokalypse
Es ist ein später Sommerabend, warm genug, dass wir noch draußen sitzen können. Auf dem Tisch zwischen uns stehen zwei Gläser. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ich meine Freundin Viktoria zuletzt gesehen hatte. Inzwischen lebt sie wieder in Kiew. Zwei Jahre hatte sie mit ihrem Sohn in Deutschland verbracht, um ihn aus den direkten Bedrohungen des Krieges herauszunehmen. Aber irgendwann drängte es sie zurück: zu ihrem Mann, zu ihrer Großfamilie, zu dem Land, das trotz allem ihr Zuhause ist.
Ich ringe mit der Frage, die sich aufdrängt. Schließlich formuliere ich sie, auch wenn sie mir schwer über die Lippen kommt: „Wie hältst du das aus, Tag für Tag – die Drohnenangriffe, die Todesmeldungen, das Leid auf der Straße?“
Sie schaut mich an, als habe sie diese Frage schon oft gehört. „Man gewöhnt sich nie daran“, sagt sie leise. „Aber wir dürfen nicht aufhören, an eine Zukunft zu glauben. Sonst verlieren wir uns selbst.“
Aber wir dürfen nicht aufhören, an eine Zukunft zu glauben. Sonst verlieren wir uns selbst.
Ein Ort der Einsamkeit und der Trostlosigkeit. Und doch – gerade in dieser Öde geschieht etwas, das bis heute die Welt bewegt: Johannes schreibt die Texte der Offenbarung, das wir heute als das letzte Buch der Bibel kennen. Auf der „Insel der Verbannten“ entsteht dieser Text, der bis heute sowohl fasziniert als auch erschreckt. Dieser Text wird auch als Apokalypse beschrieben wird. Apokalypse – in meinem Kopf tauchen Bilder von Katastrophen, Weltuntergang und Endzeit-Szenarien auf – Bilder von Zerstörung, Chaos und dem Zusammenbruch der bekannten Ordnung.
Ein Ort der Einsamkeit und der Trostlosigkeit.
Kriege, Hungersnöte, Machtmissbrauch, Tod.
Johannes beschreibt das Grauen seiner Zeit in drastischen Bildern: Kriege, Hungersnöte, Machtmissbrauch, Tod. Die berühmten vier Reiter der Apokalypse sind wie eine Bildsprache, die auch in unsere Gegenwart passt. Wer die Nachrichten verfolgt, erkennt die Parallelen: Krieg in Europa, Hungersnöte in Afrika, die eskalierende Klimakrise, der Verlust an Artenvielfalt, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.
Apokalypse heute heißt für mich manchmal: App löschen!
Außerdem jagt eine Krise die nächste. In den Nachrichten sehe ich Hungersnöte und verzweifle beinahe, wenn ich erlebe, dass diese verdammten Kriege nicht beendet werden können – egal durch welche politischen Deals.
In mir wächst das Gefühl der Ohnmacht. Es gibt Wochen, in denen ich meine Nachrichten-App oder bestimmte Social-Media-Anwendungen von meinem Handy lösche, nur um mich nicht ständig mit diesen apokalyptischen Tatsachen und Weltuntergangsszenarien auseinandersetzen zu müssen. Zu Recht kann man da fragen: Ist das Weltflucht? Oder ein Akt der Selbstfürsorge?
Wenn ich schon die aktuellen Nachrichten kaum ertrage, frage ich mich unweigerlich: Brauchen wir da auch noch die apokalyptischen Bilder der Bibel? Ich ertappe mich jedenfalls immer wieder dabei, dass ich einen großen Bogen um das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, mache. Zu ungewöhnlich sind die Bilder, zu düster die Stimmung, die der Autor zeichnet.
Johannes, der Verfasser der sogenannten Johannes-Apokalypse, schont uns keineswegs: Mit realistischen, düsteren Gewaltdarstellungen malt er in schwarzen Farben die Realitäten seiner Zeit. Er beschreibt die Schrecken der letzten Tage als das Werk unerbittlicher Gegenspieler Gottes. Bei Johannes treten die vier apokalyptischen Reiter als Boten der nahenden Apokalypse, des Jüngsten Gerichts, auf: Machtmissbrauch, Krieg, Hungersnot und Tod (Offb 6,9–11). Beim Lesen der Johannes-Offenbarung möchte ich manchmal am liebsten auf „App löschen“ drücken – so niederschmetternd finde ich diese Bilder.
Was hinter den Kulissen passiert
Apokalypse ist also Enthüllung. Sie zeigt, was hinter den Kulissen geschieht. Die Machtspiele der Herrschenden, die Gewalt der Kriege – sie sind nicht das letzte Wort. Johannes entlarvt sie, indem er sie in Bilder fasst. Er reißt den Schleier weg und sagt: Das ist die Realität. Aber es gibt eine andere Wirklichkeit, die tiefer reicht.
Diese andere Wirklichkeit wird in den letzten Kapiteln sichtbar. Dort, wo nach allen Schreckensbildern plötzlich ein völlig neuer Ton anschlägt:
„Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5)
Hoffnung ohne Illusionen
Das ist keine naive Vertröstung. Johannes lebte in einer Zeit, in der Christen und Christinnen verfolgt wurden, in der das Römische Reich seine Macht brutal demonstrierte. Er wusste, was Gewalt bedeutet. Und gerade dort wagt er, von einer neuen Schöpfung zu sprechen: von einer Welt ohne Tränen, ohne Tod, ohne Klage.
Die Verse rund um die Jahreslosung lesen sich deshalb wie ein Donnergrollen, das den nahenden Sturm ankündigt und zugleich ahnen lässt, dass danach die Luft klar sein wird und die Vögel wieder zwitschern. Immer wieder lese ich diese Verse – fast trotzig, um gegen die Weltuntergangsstimmung unserer Tage anzuhalten:
Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:
»Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen!
Er wird bei ihnen wohnen,
und sie werden seine Völker sein.
Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein.
Er wird jede Träne abwischen von ihren Augen.
Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben,
kein Klagegeschrei und keinen Schmerz.
Denn was früher war, ist vergangen.«
Der auf dem Thron saß, sagte:
»Ich mache alles neu.«
Und er fügte hinzu: »Schreib alles auf,
denn diese Worte sind zuverlässig und wahr.«
Dann sagte er zu mir: »Es ist geschehen!
Ich bin das Alpha und das Omega,
der Anfang und das Ende.
Ich werde dem Durstigen Wasser geben,
das aus der Quelle des Lebens fließt.
Ich gebe es ihm umsonst.
Offenbarung 21,3–6
Sichtbarwerden einer verborgenen Wirklichkeit
Es geht in der Apokalypse des Johannes um das Sichtbarwerden einer verborgenen Wirklichkeit. Johannes legt uns einen Text vor, der aktueller kaum sein könnte: Er verschweigt die Schrecken der Zeit nicht, eröffnet aber mitten aus ihnen heraus Hoffnung und Zukunft. Er verweist auf die unsichtbare Wahrheit: Jemand hält diese Welt in seiner Hand – und er wird sich zeigen! Gleichzeitig weitet er den Blick auf einen größeren Horizont: Selbst dort, wo Menschen nur Ende und Ausweg sehen, kann und wird Gott Anfang und Verheißung schenken: Gott selbst macht alles neu!
Vielleicht liegt darin die eigentliche Kraft der Apokalypse: Sie nimmt das Dunkle ernst – und gerade deshalb kann sie von Hoffnung sprechen, die nicht billig ist.
Wenn ich also wieder auf „App löschen“ tippe, will ich mich erinnern: Es gibt eine andere Perspektive. Sie ist nicht sichtbar, aber sie ist verheißen. Sie trägt den nüchternen, klaren Satz: „Siehe, ich mache alles neu.“
Diese Hoffnung hat nichts mit Wunschdenken zu tun. Sie ist ein Widerspruch gegen die scheinbar alternativlosen Bilder der Katastrophe. Sie ist ein Protest gegen die Vorstellung, dass alles den Bach hinuntergeht.
Vom „App löschen“ zum sehenden Hoffen
Hoffnung und Verantwortung
Die biblische Hoffnung, dass Gott „alles neu“ macht, entlässt uns nicht aus der Verantwortung. Im Gegenteil. Sie erinnert uns daran, dass die Schöpfung nicht uns gehört, sondern Gott. Sie ist uns anvertraut – und darum verpflichtet uns Hoffnung zu handeln.
Wer glaubt, dass Gott Neues schaffen wird, kann schon jetzt im Kleinen Schritte setzen, die dem Neuen entsprechen: nachhaltiger leben, achtsamer mit Ressourcen umgehen, Menschenrechte achten, Frieden fördern, wo es möglich ist. Nicht, weil wir die Welt retten könnten. Sondern weil wir auf den vertrauen, der sie in seinen Händen hält.
Ich nicke, weil der Klos im Hals so sitzt, dass ich nicht sagen kann.. Ihre Hoffnung ist keine romantische Verklärung, sondern ein nüchterner Trotz gegen das Dunkle. Und genau darin liegt ihre Kraft.
Ein Gespräch, das bleibt
Es gibt eine Dimension, die wir nicht sehen, aber glauben dürfen: dass Gott das letzte Wort haben wird. Und dieses Wort lautet nicht Zerstörung, sondern Erneuerung.
„Siehe, ich mache alles neu.“
Das ist keine Vertröstung. Es ist eine Perspektive, die uns nüchtern bleiben lässt – und dennoch hoffnungsvoll.
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